Möglichkeit der Partizipation oder doch eher Scheindemokratie? – ein Statement
Von Jaroslav Lepekhin
„Der Bürgerrat hilft der schweigenden Mitte eine Stimme zu geben“, mit diesen Worten beschreibt Bärbel Bas, Präsidentin des Bundestags, den Mehrwert der neuen Möglichkeit der Bürgerbeteiligung. Im einen von der Bundesregierung einberufenen Bürgerrat sollte ein Kreis von 160 ausgelosten Bürgern miteinander in den Diskurs treten und Vorschläge zum Thema „Ernährung“ erarbeiten. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen sich die politischen Fronten immer weiter verhärten und die Politik mit einem massiven Akzeptanzproblem zu kämpfen hat, scheint ein solches politisches Mitmach-Format des Bundes eine hervorragende Chance der aktiven politischen Mitbestimmung zu sein. Die Frage, inwiefern die Einrichtung „Bürgerrat“ tatsächlich eine Möglichkeit darstellen kann, der Politikverdrossenheit in der Bevölkerung entgegenzuwirken, soll im Folgenden unter Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte erörtert werden.
Der Bürgerrat sichert Veganer-Quoten, aber Bauern und Bäcker bleiben außen vor – das nennt die Bundesregierung „Repräsentativität“.
Die Arbeitsweise des Bürgerrates lässt sich grob in vier Phasen gliedern: Die Einberufung, die Informations- und Beratungsphase, die Diskussionen mit Empfehlungsfindung und schlussendlich die Übergabe der in einem Bürgergutachten zusammengefassten Handlungsempfehlungen. Ein Problem ergibt sich schon in der ersten Phase, genauer gesagt in der Zusammensetzung. Die potenziellen Mitglieder des Gremiums werden im Rahmen einer Bürgerlotterie zufällig ausgelost. Um eine deskriptive Repräsentativität ganz Deutschlands zu gewährleisten, wird nach zuvor festgelegten Kontingenten gelost. Doch hier stößt die Repräsentativität an ihre Grenzen, denn die Arbeit des Bürgerrates erfolgt zum großen Teil online. Viele ältere Menschen oder jene ohne Internetanschluss werden damit strukturell ausgeschlossen. Dies wiederum verschafft anderen Gesellschaftsgruppen Vorteile. Was ebenfalls Fragen zur sozialdemografischen Besetzung aufwirft: Da laut Informationsblatt der Bundesregierung „an den Beratungen zum Thema Ernährung eher Menschen teilnehmen wollen, die sich intensiv mit ihrer Ernährung auseinandersetzen“ wurde eine Vegetarier- und Veganerquote eingerichtet. Es spricht zweifelsohne nichts dagegen, dass Veganer und Vegetarier teilnehmen, zumal ihr Anteil innerhalb des Bürgerrats den in der Gesamtbevölkerung nicht übersteigt. Jedoch stellt sich die Frage, wieso ihnen eine relevante Präsenz verbindlich zugesichert wird und Bauern, Bäckern und Lebensmittelkonzernen, die mindestens gleichermaßen von politischen Entscheidungen hinsichtlich der Ernährung betroffen wären, nicht. Das Anstreben von Repräsentativität führt in diesem Fall also auch dazu, dass bestimmten Interessensgruppen aus der Gesellschaft besonderer Einfluss zugesichert wird, während andere strukturell geringere Chancen haben, Teil des Bürgerrates zu werden.
Aus Sicht der politischen Entscheider stellt dieses neu erprobte Gremium unbestritten ein effektives Mittel dar, das Vertrauen in die politische Arbeit zu stärken: Die bürgerrätlichen Mitglieder lernen die Bedeutung von Diskurs, Debatte und Kompromiss durch die unterschiedlichen Perspektiven zu verstehen. Die Komplexität von Politik wird nachvollziehbarer und die Kluft zwischen dieser und den Bürgern kleiner. Findet das Bürgergutachten dann auch noch Gehör in der parlamentarischen Beratung, so kann der Bürgerrat auch bürgernähere Gesetzesentwürfe im Bundestag erreichen. Nicht nur dasVertrauen wird so gestärkt, sondern auch die Akzeptanz der Politik innerhalb der Gesellschaft kann wieder aufgebaut werden. Der Bundestag soll dadurch wiederum ein Bild davon bekommen, welche Maßnahmen die Bürger, in dem Fall für eine gesündere und nachhaltigere Ernährung, wünschen oder welchen Beitrag sie selbst dafür bereit sind zu leisten. Diese direkte Rückkopplung zwischen den Bürgern und den politischen Entscheidungsträgern kann entscheidend dazu beitragen, politische Maßnahmen zuentwickeln, die den tatsächlichen Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung entsprechen und das Gefühl des Entscheidens „über den Kopf der Bürger hinweg“ verringern.
Wenn es wirklich darauf ankommt, hat der Gesetzgeber kein Interesse daran, die Bürger ernsthaft mitreden zu lassen.
Daneben stellt sich jedoch die Frage, wieso ein von den Bürgern demokratisch gewähltes Parlament überhaupt eine Bürgerberatung braucht. Warum sollten 160 repräsentativ ausgewählte Personen, die einen Bürgerrat bilden, bessere Lösungen erarbeiten als gewählte Parlamentarier, deren Hauptaufgabe es ist, unsere Interessen innerhalb der parlamentarischen Debatte zu vertreten?Der Bundestag selbst ist bereits ein Gremium, das sich letztlich aus Bürgern dieses Staates zusammensetzt. Jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Die Abgeordneten des Bundestages werden von der Bevölkerung gewählt und damit beauftragt, die Interessen und Belange ihrer Wählerschaft zu vertreten. Beim Bürgerrat vertreten die Mitglieder ihre eigenen Standpunkte. Auf Mehrheitseinstellungen in der Gesellschaft können daraus keine Schlüsse gezogen werden. Das zentrale Problem liegt vor allem darin, dass Bürgerräte, wenn sie zu starkes politisches Gewicht erhalten, dem demokratisch gewählten Bundestag Konkurrenz machen könnten. Die Legitimität des Bundestags basiert darauf, dass Abgeordnete direkt von den Bürgern gewählt und somit mit einem klaren politischen Mandat ausgestattet sind. Ein Bürgerrat hingegen setzt sich aus zufällig ausgelosten Personen zusammen, die keine demokratische Wahl durchlaufen haben. Wenn ihre Empfehlungen zu stark in die politische Entscheidungsfindung einfließen, könnte das Vertrauen in das repräsentative System geschwächt werden. Damit wächst der Eindruck vonScheindemokratie, was auch daran liegt, dass der Bundestag selbst beschließt, welches Thema im Bürgerrat behandelt werden soll. In tatsächlich gesellschaftlich polarisierenden Fragen wie der Asylpolitik oder des Heizungsgesetzes scheint das Interesse daran, die Bürger zu beteiligen, nicht all zu groß zu sein. Sonderlich Effizient ist diese Form der Bürgerbeteiligung im Übrigen auch nicht: Die Einrichtung von Bürgerräten ist nicht nur mit hohem finanziellen, sondern auch mit hohem personellem und bürokratischem Aufwand verbunden.
Was im Gegensatz zum Bundestag positiv am Bürgerratanzusehen ist, ist seine geringe Anfälligkeit für Lobbyeinflüsse, die sich aus seiner Zusammensetzung und Arbeitsweise ergibt. Während Bundestagsabgeordnete häufig in engem Austausch mit Lobbygruppen stehen, da sie durch langjährige politische Ämter mit verschiedenen Interessenverbänden verbunden sind, setzen sich Bürgerräte aus zufällig ausgewählten Bürgern zusammen. Diese haben in der Regel keine vorgefestigten Bindungen an Lobbygruppen. Das ermöglicht es ihnen, Themen mit einer größeren Neutralität zu betrachten und Entscheidungen zu treffen, die eher am Gemeinwohl orientiert sind als an den Interessen mächtiger Lobbyakteure. Darüber hinaus wird die Unabhängigkeit des Bürgerrats dadurch gefördert, dass seine Mitglieder nur für die Arbeit an einem einzigen Thema gelost werden. Zugleich unterliegen Bundestagsabgeordnete durch ihre politische Karriereeinem ständigen Druck, wiedergewählt zu werden. Daher versuchen sie Entscheidungen im Hinblick auf zukünftige Wahlenzu treffen. Diesen Druck gibt es für die Mitglieder eines Bürgerrates nicht, wodurch der strategische Blick auf mögliche politische oder persönliche Vorteile wegfällt. Die Mitglieder eines Bürgerrats sind darüber hinaus nicht an Fraktionsdisziplinengebunden. Im Parlament müssen Abgeordnete oft nach den Prinzipien der Parteilinie abstimmen, auch wenn sie persönlich womöglich eine andere Meinung vertreten. Das führt in vielen Fällen dazu, dass individuelle Überzeugungen zugunsten der Parteilinie zurücktreten. Im Bürgerrat dagegen gibt es zumeist keine parteipolitischen Bindungen. Jedes Mitglied kann seinen Standpunkt frei und ohne Rücksicht auf parteipolitische Vorgaben zum Ausdruck bringen.
Die Volkssouveränität der Bundesrepublik Deutschland beruht darauf, dass die höchste Gewalt vom Volke ausgeht, wobei die Bürger Abgeordnete wählen, die ihre Interessen im Parlament vertreten. Bemühungen, durch Bürgerräte der Politikverdrossenheit in der Bevölkerung entgegenzuwirken, bergen die Gefahr, das repräsentative politische System auszuhebeln. Zudem werden bei der Einberufung von Bürgerräten bestimmte Interessengruppen gezielt berücksichtigt, wie Vegetarier und Veganer beim Bürgerrat „Ernährung“, was Fragen zur fairen Beteiligung aufwirft. Hinzu kommt die Kritik, dass Bürgerräte nur bei weniger polarisierenden Themen eingesetzt werden, während in stark umstrittenen Fragen, wie der Asylpolitik, der politische Wille zur Bürgerbeteiligung fehlt.Bürgerräte schaffen keine echte Beteiligung der breiten Bevölkerung, sondern repräsentieren nur einen kleinen, zufällig ausgewählten Teil, was das Gefühl der Exklusion bei vielen Bürgern sogar verstärken kann. Bürgerräte haben somit nicht das Potenzial, der Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wirksam entgegenzuwirken.
(Stand: 23.10.2024 18:28 Uhr)