Die Kraft der Gemeinschaft einer Seniorentagespflege
„Theo, wir fahr‘n nach Lodz!“ – Vicky Leandros (1974)
Plätschernder Wasserkocher, klingelndes Telefon, klirrendes Geschirr. Außerdem das Verpackungsknistern von Karamellbonbons, die für den Gaumen von älteren Menschen eigentlich eher ungünstig seien, wie Petra Weber, eine Angestellte des regelrechten Kindergartens für Senior*innen, gesteht. Dann stechender Kaffeeduft gemischt mit einer Parfumnote und dem typischen „Alte-Leute-Geruch“. Dazu rege Gespräche über Arbeitszeiten und Eintragungen – eben ein ganz normaler Montagmorgen kurz vor acht Uhr in der Tagespflege/Tagesbetreuung für Senioren der AWO Delmenhorst Deichhorst.
Wo vor der Tür noch verschlafene Ruhe und Friede herrschte, ist wenige Minuten später in der bescheidenen Küche des Gebäudes bereits der Trubel groß. Fast schon könnte man von einer Hektik berichten, schließlich muss alles für die Ankunft der Gäste – so werden die Rentner*innen hier genannt – und das folgende Frühstück bereitstehen.
Humor überdauert auch Falten
Beim Gedanken an das Wort „Pflegeeinrichtung“ schießen uns ganz spontan Begriffe wie „traurig“, „Desinfektionsmittel“ oder „Tod“ durch den Kopf. Das Bild zeichnet sich eindeutig vor unserem inneren Auge ab: Im Alter gibt es nicht mehr viel, woran man sich erfreuen kann und alles, was mit Seniorenbetreuung in Berührung kommt, stimmt melancholisch. Entsprechend trist geht es auch in der Seniorentagespflege zu? Wohl kaum!
Bereits zur ersten Mahlzeit des Tages zeigt sich deutlich die generell lockere Stimmung in der Einrichtung. Für die Beteiligten ist das hier alles ganz gewöhnlicher Alltag. Es scheint, als wäre es das Normalste der Welt, dass sich 14 Erwachsene einzeln Butter und Marmelade auf ihr Brötchen legen lassen, während sie wartend am großen Gemeinschaftstisch sitzen. Einige Gäste unterhalten sich dabei freudig über ihre letzten Arztbesuche, anderen muss dagegen erklärt werden, dass vor ihnen auf dem Teller Äpfel liegen. Doch einen betrübten Charakter hat dies nicht. Vielmehr erhält man den Eindruck, als wäre es schon immer ganz genau so und nie anders gewesen.
Betont lässig werden dementsprechend häufig Späße gemacht, denn der Humor ist mit den Jahren im Gegensatz zur Beweglichkeit gewiss nicht eingerostet. „Aber den Kopf nicht abschneiden.“ lautet beispielsweise die Antwort des Rentners Manfred Hoheisel, als Petra ihren baldigen Besuch beim Friseur ankündigt. Amüsiertes Gelächter ertönt und das ist gut so, schließlich fördert Lachen bekanntlich die Gesundheit. Wenn man bedenkt, dass Kinder rund 400-mal am Tag lachen, dieser Wert bei älteren Leuten allein zuhause allerdings wahrscheinlich gegen null läuft, muss die Erinnerung an den nächsten Besuch der Tagesbetreuung zweifellos malerisch sein. „Wir sind alle ein bisschen verrückt hier, aber im guten Sinne.“, bemerkt Herr Hoheisel.
Gemeinsam gegen die Einsamkeit
Später lässt sich eine gewisse Stille wahrnehmen. Jedoch handelt es sich hierbei keineswegs um eine ohrenbetäubende, unangenehme oder peinliche Stille. Vielmehr kann man von einer erfüllenden Ruhe sprechen, welche die Gäste ausstrahlen. Ein paar begeben sich für einen Mittagsschlaf in einen der gemütlichen roten Sessel im Eingangsbereich, sodass die Gespräche abebben. Es wird aber auch der Eindruck vermittelt, dass die restlichen Senior*innen einfach bloß die Anwesenheit der anderen schätzen und schlicht durch die Existenz einer Gesellschaft zufrieden sind. „Ich lege mich nicht so gerne hin, weil man dann die Zeit hier verschläft. Das kann ich auch zuhause. […] Wenn ich jetzt Kontakt möchte, brauche ich mich nur zu jemandem zu setzen.“, bestätigt der Gast Helmut Nistler. Er sei dankbar für die Gesprächsmöglichkeiten in der Tagespflege, es gefalle ihm hier sehr. Und damit ist er nicht allein. Lisa Thiele, die mit 94 Jahren älteste Besucherin, kommt unter der Woche tagtäglich in die Einrichtung. Obwohl sie von der Krankheit Demenz betroffen ist, weiß sie zumindest eine Sache mit Sicherheit: „Ich komme wirklich gerne hierher, das muss ich sagen!“.
Neben sämtlichen Arten der Demenz zählen im Alter Depressionen zu den am weitesten verbreiteten Erkrankungen. Beinahe 50 Prozent der über 80-Jährigen leiden an der psychischen Krankheit und gerade ältere Menschen fühlen sich vielmals durch eine soziale Isolation auch einsam. Kein Wunder also, dass die Pensionär*innen regelrecht von der Tagespflege schwärmen und selbst bei den simpelsten Gemeinschaftsaktivitäten sichtlich aufleben. „Ich bin glücklich, dass sie hier sind. Zuhause sitzen sie nur rum.“, erklärt Petra. Zusätzlich würden auf diese Weise tagsüber die Angehörigen entlastet, die oft keine Zeit für die Beschäftigung und Pflege ihrer Eltern oder Großeltern etc. hätten, berichtet Jan Antons, der seinen Vater nachmittags aus der Einrichtung abholt. „Ich finde das sehr hilfreich und nett. Es ist toll für die älteren Menschen, dass Unternehmungen gemacht werden und man sich Zeit dafür nimmt.“, führt er weiter aus.
Töne für die Seele
Auf dem großen Tisch sind irgendwann im Verlauf des Tages nicht mehr nur die Namenskärtchen und Porträts eines jeden Gastes beim zugehörigen Sitzplatz liebevoll positioniert. In der Tischmitte steht nun auch eine große türkise Musikbox, aus deren Lautsprecher verzerrte Stimmen klingen. Man hört viele der Gäste im Chor zu Liedern wie „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“, „Weiße Rosen aus Athen“ oder „Über sieben Brücken musst Du geh’n“ singen und eifrig den Interpreten/ die Interpretin erraten. Sogar die an Demenz erkrankten erinnern sich teilweise noch an die berühmten Melodien und Texte des letzten Jahrhunderts. Da das Singen erwiesener Maßen glücklich macht, schaut man für eine kurze Zeit wieder in jugendlich frische, sorgenfreie Gesichter, die über so Banales wie Streaming-Werbung lachen und in Erinnerungen schwelgen. Die Nostalgie sowie Lebensfreude sind zum Greifen nahe, ein seliges Lächeln tragen manche auf den Lippen.
Und spätestens als wir zumindest instrumental mit Vicky und Theo nach Lodz fahren – der Running Gag des Tages schlechthin – wird klar, dass das hier kein Ort ist, um niedergeschlagen zu sein. Melancholie hat bei Petras Gesang gar keine Chance. Beim Singen würde man niemals auf die Idee kommen, dass die älteren Menschen dahinvegetierend ihren Lebensabend ausklingen lassen. Eher würde man beinahe annehmen, dass sie an jedem Tag in der Seniorentagespflege mit dem Aufgang der Sonne in der Früh erneut ihren Lebensmorgen genießen. Denn wie schon Frau Thiele ganz richtig festgestellt hat: „Hauptsache wir haben unseren Spaß!“.
Verfasst von Selina Wirz (Jg. 12)